Sonntag, 14. Juli 2013

Ein guter Tag zum Fliegen

Ein guter Tag zum Fliegen

Nancy ist vermutlich der kaputteste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe.
Sie ist ein wandelndes Wrack und es ist ihr scheißegal, solange sie fliegt.

Sie schwebt anmutig durch die Rauchschwaden, die ihren abgezehrten Körper einhüllen und deutet lachend auf die Welt, die sich unter ihren Füßen ausbreitet. Eine Welt, in der Teddybären ihre Zuckerwattefüllung an halbfertige Menschen verteilen und die Staubkörner in ihrer roten Schönheit durch das Licht der untergehenden Sonne tänzeln, während laute Musik aus den Wolken dröhnt

Die scharfen Umrisse ihrer Schulterblätter, die sich unter dem dünnen Stoff ihres Oberteiles abzeichnen, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein Blick wandert höher, vorbei an dem sanften Lächeln, das man nur allzu leicht übersehen kann, hin zu den tiefen Schatten unter ihren Augen. Der Kontrast zwischen den dunklen Ringen und ihrer blassen Haut scheint seit unserer ersten Begegnung stärker geworden zu sein und ich habe Mühe, mich auf den  glücklichen Glanz in ihren Augen zu konzentrieren, der von Zufriedenheit und Sicherheit zu sprechen scheint. Keine Ahnung, wo das auf einmal her kommt.

Ich frage mich, wie sie mit ihrer zerfetzten Seele noch immer in der Lage ist zu Fliegen und nicht einfach in sich zusammenzufallen, als ich mich wieder von ihr abwende.

Nancy ist ein wandelnder Widerspruch. Sie lebt und stirbt im selben Atemzug, während sie sich bei dem Versuch, sich und ihre Welt zu retten, immer mehr zu Grunde richtet. Sie ist stark, obwohl ihr die Schwäche deutlich ins Gesicht geschrieben ist und selbst wenn sie sich vollkommen in Schweigen hüllt, schreit sie ihre Gedanken in die Welt.

Als sie leise lacht – ein heiserer und kraftloser Laut – drehe ich mich wieder in ihre Richtung.
Ihr sanfter Blick trifft mich und für einen kurzen Moment frage ich mich, womit ich jemanden wie Nancy verdient habe.

„Manchmal wüsst’ ich echt zu gern, was in deinem Kopf vor sich geht.“
Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder von ihr ab, nicht wissend, was ich darauf antworten soll. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie mich schweigend anlächelt und ich nestle nervös am Saum meines Pullovers.
„Du bist komisch“, sagt sie und der Ton in ihrer Stimme lässt den Schluss, dass sie es irgendwie abwertend gemeint haben könnte, gar nicht erst zu.
„Ich bin normal.“
„Eben.“

Sie lacht leise und mustert mich erneut eine Weile, ehe sie fragt: „Was denkst du gerade?“
Ich zögere, ehe ich leise murmle: „Heute wäre ein guter Tag zum Fliegen, meinst du nicht?“

Sie stutzt und stößt kurz darauf wieder dieses heisere Geräusch aus. Kopfschüttelnd lehnt sie sich an mich und dreht vorher die Musik lauter.

Sie fliegt und vielleicht nimmt sie mich ja irgendwann mal mit.


Houston, niemand von euch hält uns auf.