Donnerstag, 31. Juli 2014

Von Engeln erschossen

Nancy sieht aus wie ein Engel.

Ich weiß, dass sie keiner ist – dazu trinkt, raucht und flucht sie zu viel – aber sie sieht aus wie ein Engel. Und ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem sie ihre Flügel ausbreiten (springen) will.

Gott, wie ein verdammter Engel!
Ein anderer Vergleich ist mit der Sonne, die die Stadt in ein goldenes Licht taucht und mich nicht mehr als ihre Silhouette erkennen lässt, einfach nicht möglich. Der Wind zerzaust ihre Haare, umspielt ihre nackten Füße, die sich nur halbherzig um die Kante krallen, die das letzte Hindernis darstellt, bevor sie auf den Boden klatscht. Bevor aus ihr nicht mehr als ein kleiner roter Klecks inmitten dieser grauen Stadt wird. 

„Nancy.“ Meine Stimme ist nicht laut, dennoch reicht es, um den Verkehrslärm unter uns zu übertönen. Sie dreht sich ruckartig in meine Richtung, ohne auch nur ins Wanken zu geraten und in mir keimt der Verdacht auf, dass sie nicht zum ersten Mal hier oben steht.
„Bitte komm da runter.“

Sie nickt und folgt meiner Bitte widerstandslos. Ich breite meine Arme aus, als ich ihr bestürztes Gesicht sehe und mit jedem Schritt, den sie auf mich zu kommt, gerät der Vergleich mehr ins Wackeln. Mit jedem Schritt ähnelt sie mehr und mehr einem Menschen, der von Engeln kaltblütig erschossen wird, statt mit ihnen durch die Luft zu fliegen.

Ich schließe Nancy in meine Arme und vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren. Nach etlichen Minuten, in denen sie sich schweigend an mich gepresst hat, wage ich es, sie anzusprechen.
„Alles ok?“

Sie lacht humorlos auf, nickt jedoch und mir wird selbst bewusst, wie bescheuert diese Frage eigentlich war. Ich ziehe sie noch näher an mich und warte darauf, dass sie anfängt zu reden – so, wie sie es immer macht.

„Wenn ich da oben stehe, weißt du“, beginnt sie und ein leichtes Lächeln huscht über meine Lippen. „Wenn ich da stehe und diese klitzekleinen Autos unter mir sehe, dann fühle ich mich irgendwie nicht mehr so klein und unbedeutend. Es fühlt sich einfach richtig an.“

Nancy seufzt leise und dreht ihren Kopf in die andere Richtung, sodass mich ihre Haare im Gesicht kitzeln.
„Aber das ist vollkommen unwichtig, weißt du?“ Ich weiß es nicht und schüttle den Kopf, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie eigentlich keine Antwort von mir erwartet.

„Es ist unwichtig, weil niemand den Moment vor dem Fallen sieht.“ 
 
 
 

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